Ursprünglich wollte ich für dieses Thema erst mal fein recherchieren und Fakten sammeln. Anschliessend würde ich meinen Senf dazu geben. Nach viel Gegrübel, Getippse, Austausch mit meiner Familie und löschen von quasi schon fertigen Absätzen habe ich meine Meinung geändert und komme gleich zum Senf.
Ich bin analog geboren und aufgewachsen. Ich kenne noch Fernsehen mit drei Programmen (die irgendwann Abends nur noch ein Testbild sendeten), leben ohne Telefon. Aber irgendetwas in mir war schon immer irgendwie… na, Computermäßig. Mich sprach die Musik von Kraftwerk an, als ich sie das erste mal hörte, den späteren 80er Elektro-Pop höre ich noch heute. Mein erster Computer war ein ZX-81. Als das Internet langsam aufkam, da hatte ich längst schon BTX und später den Luxus, mich über Compuserve in Hamburg als nächsten Knoten einwählen zu dürfen, im Minutentakt abgerechnet. Ich ahnte damals: Das hat Potential und alles, was da noch kommt, wird das Leben der Menschen verändern.
Heute, vierzig Jahre nach meinem ZX-81, ist das Internet schon mehr als Alltag: Es ist Lebensbestandteil und in vielen Bereichen schlicht nicht mehr wegzudenken. Aber mich schaudert es bei dem Gedanken an solche Dinge wie SmartHome oder Autos, die nicht nur „nach Hause telefonieren“ sondern auch andersrum Befehle von jemand anderem als dem Eigner empfangen können. Ich bin mittlerweile wirklich unschlüssig. Ist die Digitalisierung ein Segen? Wikipedia, Openstreetmap, Linux etc. z.B. empfinde ich als Gewinn: Frei verfügbares Wissen für alle (wie heisst es doch: Lesen verhindert Herrschaftswissen). Und es gibt sogar OpenHardware, das ist so klasse wie konsequent!
Aber warum ist es möglich, dass Kinder am Tablet ihrer Eltern durch bloßes Zocken deren Kreditkarte enorm belasten können, doch in der Schule muss man fürs gleiche Kind noch Kopiergeld bezahlen und die Tafel nass abwischen? Pornografie jedweder Art ist nur einige Mausklicks (bzw. Finger-Tabs) entfernt, ohne jede Einschränkung (außer vielleicht noch eine Bezahlschranke für einige, die den kostenlosen Content nicht schnell genug finden), aber Abmahn-Anwälte verklagen Blogger und andere brave Webseitenbetreiber massenhaft wegen (in meinen Augen) halbseidenen Copyright-Ansprüchen?
Wie kann es sein, dass 93% der Deutschen (okay, das sind Fakten: Klick) WhatsApp nutzen, viele aber Probleme beim Lesen und Schreiben haben? (kein Link, beim Suchen kriegte ich schlechte Laune) Ist es möglich, dass anhand der Krankenversicherungkarte festgestellt werden kann, wer es „eher verdient hat“, in der Notaufnahme möglichst schnell behandelt zu werden? Warum freuen sich Menschen, wenn sie für eine „smarte“ Glühbirne 40 Euro bezahlen, wo ich mit 3,95 eine identische Ausleuchtung habe und kein Handy brauche, um das Licht einzuschalten? Es gibt einen sehr interessanten CCC-Vortrag über Smarthome und… ach, guckt selbst: Youtube-Link
Warum muss jede Smartphone-Generation immer schneller werden? Warum nicht einfach „besser“ im Sinne von Menschlicher, dem Menschen unterstützend statt Geldaussaugend? Apropos Geld: Ich stehe total auf Bargeld: Ist es weg, habe ich kein Geld mehr. Mein Sohn findet Bargeld doof (dass „sein“ Geld dann Buchgeld heisst, das weiß er gar nicht, ist aber auch nicht wichtig…).
Ja: viele der Google-Dienste sind echt erstaunlich und es grenzt an Magie, wenn man sein Handy einfach über einen fremdsprachigen Text halten kann und man sieht die Übersetzung. Wieviel Menschen ist aber klar, dass Google das nicht aus reiner Liebe macht und schon gar nicht kostenlos?
Letztendlich kann man nur resignieren: Die großen Konzerne, die es verstanden haben, mit Daten Geld zu verdienen und einem gleichzeitig einbläuen, dass es ohne deren Hard- und Software nicht mehr gehen würde, die werden so weiter machen. Und keiner hat eine Chance: Wer sich davon fern hält ist ja trotzdem im System. Wenn von 100 Leuten 95 ein Feuerzeug anzünden, dann sieht man die ohne besonders gut. Facebook wird mich kennen, da brauche ich gar nicht wetten.
Und ich prophezeie: Es wird schlimmer! Und weil alle mitmachen, ist es nicht mal ein Fluch, sondern der Lauf der Zeit, eben die schöne neue Welt.
Verdammt: Ich wollte einen ausgewogenen Beitrag schreiben, der alle Seiten fair beleuchtet und es dem Leser überlässt, abzuwägen. Das ist mir bisher nicht gelungen. Deswegen kommen hier noch ein paar positive Aspekte der Digitalisierung:
Durch die Verbreitung des Internets, durch die digitale Datenerfassung und den „neuen“ Medien wie eMail, Chat, Video-Konferenzen sind mobile Arbeitsplätze möglich geworden. Und das muss kein Home-Büro sein, auch wenn es immer so genannt wird (oder ehemals Neudeutsch: Telearbeitsplatz). Natürlich ist das z.B. bei handwerklichen Tätigkeiten nicht möglich, aber auch hier gibt es Erleichterungen für den Durchschnittsbürger: Preisvergleiche und Terminabsprachen sind von daheim (von überall) zu eigentlich jeder Zeit möglich. Diese Vorteile gelten auch für den Handwerker. Natürlich ist dann Wucher auch nicht mehr so leicht möglich, aber das ist sicher mehr Segen als Fluch.
Ganz allgemein hat die Online-Kommunikation die Welt enger zusammenrücken lassen, im positiven Sinn: Wissenschaftler, Journalisten, Politiker können sich über die Kontinente hinweg austauschen, samt quasi überall verfügbarer, passender Daten. Das bringt bessere Erkenntnisse in kürzerer Zeit.
In der Medizin wurden und werden dank EDV enorme Fortschritte erzielt. Schon die „Kleinigkeit“, dass Röntgenaufnahmen einfacher, günstiger herzustellen sind und quasi sofort verfügbar, ist ein großer Schritt zur korrekten Diagnose und Behandlung von Leiden (siehe auch: CT). Die Modellierung und Anpassung von mRNA-Impfstoffen wäre ohne den digitalen Zugriff gar nicht möglich.
Ob die so genannten Gesundheits-Apps Fluch oder Segen sind, mag ich gar nicht beurteilen. Sicher ist vieles eher Voodoo und Marketing als Diagnose und Therapie, aber wenn Menschen dadurch mehr Schritte am Tag machen, kann es nicht schaden (Ich selbst konnte bisher dem (durchaus starken) Drang widerstehen, solche eine „Uhr“ zu erwerben).
Und dann gibt es noch diese vielen Kleinigkeiten wie 3D-Druck, der schon fast Gesellschaftsfähig geworden ist (ein paar nerdige Hürden gibt es noch) und ungeahnte Möglichkeiten der Gestaltung bietet (auch für Handwerker, die vieles auch „herkömmlich“ formen und gestalten können) oder, apropos Druck: Bücher! Nun kann jeder ohne große Hürden (s)ein Buch herausbringen: Ein Segen für die Autoren, kein Fluch für die Leser, denn sie müssen es ja nicht lesen… ach ja, die digitalen Medien: Ob die Möglichkeit, durch jeden jederzeit ein Video zu erstellen und „der Welt“ zur Verfügung zu stellen, Fluch oder Segen ist, würde vermutlich einen eigenen Artikel füllen.
Gibt es ein Fazit? Nein, aber dieses zum Schluss: Dieses ganze Abwägen der Vor- und Nachteile scheint ja selbst schon recht digital: 1 oder 0, gut oder schlecht. So einfach ist es aber nicht, will man alles betrachten. „Big Data“ ist z.B. ein Schlagwort, welches nun eine eher negative Anhaftung besitzt als ursprünglich gedacht. Aber wir wollten das Thema ja eh philosophisch statt technisch betrachten, oder?
Dass diese ganze Beschleunigung der Anfang vom Ende der Erde, wie wir sie kennen, ist, steht auf einem anderen Blatt. Und die Digitalisierung ist da ja nicht mal die Ursache sondern nur das Mittel. Zum Glück ist das noch etwas hin, da können sich Gretas Kinder drum kümmern…
(Wortanzahl: 1111)
1 thought on “Holger: Digitalisierung – Fluch oder Segen?”