Ist das eine Frage, die man mir stellen darf? Mein Leben ist Digital. Mein Beruf ist Digital. Meine Lebensgrundlage ist ein Beruf, der darauf aufbaut, dass andere Menschen mit der Digitalisierung nicht zurechtkommen. Fragt man einen Herzchirurgen, ob die moderne Medizin ein Fluch oder Segen ist? – Sicherlich nicht.
Holger fordert aber eine Antwort von mir. Er und Daniel werden ebenfalls einen Beitrag zu dieser Frage erstellen und zeitgleich mit mir veröffentlichen. Also mal kein Streit. Einfach nur drei Meinungen zu einem Thema.
Also was ist die Digitalisierung? Eigentlich ist es etwas ganz Einfaches. Prozesse und Vorgänge werden aus der realen Welt in die virtuelle Welt übertragen. Das Versprechen und die Hoffnung: Mehr Transparenz und Effizienz.
Hä? Was bedeutet das?
Statt eines Kalenders auf dem Schreibtisch führe ich einen online und kann diesen mit meiner Frau gemeinsam befüllen und mit meinem Sohn teilen. Er weiß, wann wir arbeiten und wir können Termine abstimmen ohne darüber reden zu müssen. Man kann ja nicht immer miteinander reden, wenn man Berufstätig ist.
Check – Ziel erreicht. Aber …
Meine Frau aber befüllt immer nur die erste Stunde eines Termins. Muss sie von 12 bis 20 Uhr arbeiten, finde ich im Kalender einen Termin von 12 bis 13 Uhr. Das ist unpräzise. Statt den Termin in die richtige Länge zu ziehen, schreibt sie den Zeitraum in den Titel. Ihr reicht das an Information. Mir nicht. Würde Sie den Termin lang ziehen, würde ich schneller erkennen, wann Sie da ist. Gerade wenn man Termine mit Ärzten etc. abspricht, fühle ich mich immer sehr getrieben. Ein genaueres Befüllen des Kalenders würde mir das sehr vereinfachen.
Hier haben wir also einen Vorteil und gleichzeitig ein neues Problem geschaffen.
Anderes Beispiel: Also ich im Jahr 2000 im technischen Support angefangen habe, erhielt ich einen 4-wöchigen Basiskurs. 8 Stunden am Tag lernten meine neuen Kollegen*innen und ich alles, was wir über Computer, Internet und Anschlüsse wissen mussten. Einen großen dicken Aktenordner voll mit Anleitungen und Bildern und Klick-Strecken schleppten wir ab dann mit uns herum. Während des Calls klappte man dann den Ordner auf, suchte die richtige Anleitung raus und ging die Schritte mit den Kunden durch. Irre …
Dann kam ein neues Produkt oder ein neues Windows oder es gab ein akutes Problem, das viele Nutzer*innen betraf. Davon stand natürlich nichts in dem Ordner. Dinge wurden per Mail verteilt, wurden ausgedruckt und abgeheftet. Manchmal ist die Information schon veraltet, bevor diese die letzten Mitarbeiter*innen erreicht.
Es wird eine Solutiondatenbank eingeführt. Alles wird in schöne, übersichtliche und bebilderte Anleitungen gegossen. Es wird ein Team gegründet, das diese Datenbank redaktionell betreut. Alles könnte so schön sein. Bei Auswertungen stellt man aber fest, dass viele das Tool gar nicht nutzen. Klar, ist man länger im Job, kann man vieles aus dem Kopf heraus beantworten. Manche arbeiten auch lieber am Testrechner und klicken lieber 1 zu 1 mit dem Kunden mit (Remote-Zugriff gab es nicht). Viele beschwerten sich aber auch. Man würde das gesuchte nicht finden. Klar … zu den besten Zeiten enthielt die Solutiondatenbank 3500 – 4000 Artikel. Das reichte DFÜ als Such begriff eben nicht.
Auch hier hat die Digitalisierung ein Problem gelöst: Informationen stets aktuell allen Mitarbeiter*innen zur Verfügung stellen. Und gleichzeitig ein neues Problem geschaffen: Wie finde ich die richtige Information.
Digitalisierung ist also Fluch und Segen.
(Ich bin mir übrigens sicher, dass in den Spinden der Kollegen von damals noch der eine oder andere Ordner aus der damaligen Zeit liegt.)
Ist damit das Thema nach 566 Wörtern bereits abschließend besprochen? Ganz sicher nicht. Zwei Gesichtspunkte fallen mir da noch ein.
Schlechte Digitalisierung
Meine Beispiele sind eigentlich recht einfach gehalten. Die Welt lässt aber noch viel komplexere Dinge zu. Häufig werden einfach nur Formulare aus Papier in HTML Formulare gewandelt. Diese werden aber in der Komplexität nicht reduziert oder die Befüllung vereinfacht. Dann kommt noch der Datenschutz um die Ecke und schon ist es nicht mehr möglich Daten von verschiedenen Abteilungen zusammenzuführen. Aber dafür kann die Digitalisierung nichts. Das sind Menschen gemachte Probleme. Von Menschen, die sagen: Das haben wir immer so gemacht. Das muss auch so bleiben. Oder von Menschen, die immer ein Aber auf der Lippe haben und immer nur die Risiken, nie die Chancen sehen. Oder von Menschen, die nur Ihr da sein sichern möchten.
Dafür kann die Digitalisierung nichts. Ein Prozess, der gut digitalisiert wurde, ist unterm Strich immer ein Gewinn.
Die Metaebene
Man kann die Kritik äußern, dass mit der Digitalisierung nur Probleme gelöst werden, die wir ohne Industrialisierung, Technologisierung oder Modernisierung gar nicht hätten. Oder anders: Ohne Internet bräuchte ich kein Helpdesk, das eine Solutiondatenbank benötigt.
Aber zurück in die Steinzeit ist ja nun auch keine Lösung. Zumindest keine, die einer von uns wirklich freiwillig in Betracht zieht. Na gut … der Holger ein wenig (klick und klack).